Rund zwei Drittel aller Einsatzländer der GIZ gelten inzwischen als fragil. So bezeichnet man Staaten, deren Regierungen nicht willens oder in der Lage sind, staatliche Grundfunktionen in den Bereichen Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit oder soziale Grundversorgung zu erfüllen (siehe Infokasten weiter unten). Die GIZ hat im Jahr 2021 auch unter erschwerten Bedingungen in Partnerländern für verschiedene Bundesministerien und andere Auftraggeber gearbeitet. Die Basis dafür bilden die Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“. In diesem Sinne arbeiten wir vielerorts präventiv. Dort allerdings, wo Menschen akute Notlagen bewältigen müssen, unterstützen wir sie auch im Zusammenspiel mit weiteren Akteuren, die auf Nothilfe spezialisiert sind. Gleichzeitig stärken wir – wo immer möglich – Verantwortliche in Dörfern, Städten und Regionen so, dass sie den Wiederaufbau anpacken und alle in der Gemeinschaft mitnehmen können. Wenn gesellschaftlicher Zusammenhalt gefördert wird, können Krisen und Konflikte besser oder schneller bewältigt und es kann damit im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele gehandelt werden. Dabei sind Sensibilität und Geduld gefragt. Denn Wirkungen entfalten sich oft nur langsam und im Hintergrund.
„Ein Tag, an dem ich Frieden schloss“
Ein Beispiel für einen langfristigen präventiven Ansatz ist Mali. Der westafrikanische Staat erlebt seit 2012 eine Staatskrise. Um Extremismus entgegenzuwirken, unterstützen wir dort im Auftrag des Auswärtigen Amts beispielsweise Kulturinitiativen. Künste haben in Mali einen hohen Stellenwert. Kulturelle Ausdrucksformen ermöglichen es Jugendlichen, zu gesellschaftsrelevanten Diskussionen beizutragen und als „Agents of Change“ zu wirken. Deshalb fördern wir Hip-Hop-Festivals, Musikworkshops oder Theaterinszenierungen, etwa der Kulturinitiative „Un jour où j’ai fait la paix“, übersetzt: „Ein Tag, an dem ich Frieden schloss“. Tausende junger Menschen werden mit Kulturhappenings erreicht.
Neben Stabilisierungsansätzen des Auswärtigen Amts setzt die GIZ als Kriseninstrument des BMZ die sogenannte Übergangshilfe ein: Im Nordirak etwa schaffen wir für Binnenvertriebene, Flüchtlinge und Bedürftige in den aufnehmenden Gemeinden unter anderem Jobs für bis zu 40 Tage. Damit konnten bisher mehr als 39.000 kurzfristige Beschäftigungs- und damit auch Einkommensmöglichkeiten geschaffen werden. Gemeinsam mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk greifen wir außerdem den sogenannten Humanitarian-Development-Peace Nexus auf. Dieser Ansatz verbindet akute humanitäre Hilfe mit längerfristiger Entwicklungszusammenarbeit. Im Norden Ugandas nehmen beispielsweise Flüchtlinge und lokale Bevölkerung an Trainings zum Bau von Photovoltaikanlagen teil. Dadurch lernen die Menschen gemeinsam und setzen ihr Wissen anschließend praktisch um, etwa mit eigenen Prototypen für solarbetriebene Handy-Ladestationen.
Nicht vorhersehbare oder nicht steuerbare Ereignisse beeinflussen unsere Arbeit immer wieder. Auf diese Volatilität können wir mit unserem Personal reagieren, das Zusammenhänge vor Ort im Detail kennt. Mit angepassten Strukturen, etwa dem „Business Continuity Management“, planen wir vorausschauend. In besonders gefährlichen Regionen nutzen wir die sogenannte Fernsteuerung: Mit Hilfe lokaler Partner, etwa Nichtregierungsorganisationen oder Vertreter*innen der örtlichen Zivilgesellschaft, bringen wir unsere Vorhaben aus der Distanz voran. Kontakt wird von den Hauptstadtbüros aus über Telefon oder E-Mails gehalten. Reisen finden, wenn überhaupt, nur punktuell statt. Davor werden die Sicherheits-Fachleute, in hoch fragilen Ländern sogenannte Risk Management Offices (RMO), der Landesbüros konsultiert. Auch beim Monitoring, dem systematischen Erfassen von Fortschritten, hat die GIZ durch digitale Tools und ein Netzwerk von zuverlässigen Partnern Wege geschaffen, solide aus der Ferne zu arbeiten.
Zäsur in Afghanistan
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 war eines der einschneidendsten Ereignisse im vergangenen Jahr. Trotz der Erschütterungen war die Arbeit dort nicht vergebens. Fortschritte, etwa beim Zugang zu Strom und Trinkwasser und bei der Alphabetisierung und Ausbildung, wirken nach. Gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Schulkinder verzwölffacht: auf über 12 Millionen – darunter viele Mädchen, die jetzt lesen und schreiben können.
In der aktuellen Ausnahmesituation arbeitet die GIZ weiter daran, Ortskräfte und ihre Familien bei der Ausreise zu unterstützen. Kriterien und Voraussetzungen für das sogenannte Ortskräfteverfahren – und damit den Kreis der Anspruchsberechtigen – definiert die Bundesregierung. In ihrem Auftrag unterstützt die GIZ zudem die Ausreise afghanischer Mitarbeitender anderer Organisationen und von der Bundesregierung als schutzbedürftig identifizierter Personen. Wir kümmern uns unter anderem um Land- und Lufttransporte oder vereinbaren Termine für die Visa-Ausstellung. Bis Ende Mai 2022 haben wir mehr als 17.400 Afghaninnen und Afghanen bei der Aus- beziehungsweise Weiterreise geholfen.
Stabilisation Platform
Stabilisierung erfordert Hochrisiko-Projektarbeit. Es geht um Orte, in denen die Sicherheitslage extrem schwierig ist und wo oft nur Militär oder humanitäre Akteure Zugang haben – wie zum Beispiel in der vom Boko-Haram-Terror erschütterten Tschadsee-Region. Um hier handlungsfähig zu sein, ist besondere Fachexpertise erforderlich – etwa für Monitoring, Steuerung und Analyse. Dabei unterstützt die Stabilisation Platform (SPF). Sie wurde 2021 im Auftrag des Auswärtigen Amts als eigene Marke gegründet. Die SPF wird von der GIZ bereitgestellt und besteht aus praxiserprobten Expertinnen und Experten, die ihre Erfahrung in den Dienst der Außen- und Sicherheitspolitik stellen. Das SPF-Team unterstützt mit seinem breiten Know-how aus der weltweiten Projektarbeit – gerade auch in fragilen Kontexten – das Auswärtige Amt. Es berät fachlich, pilotiert neue Instrumente und unterstützt operativ.
Formen von Fragilität
- „Zerfallende“ Staaten, häufig geprägt durch gewaltsame Auseinandersetzungen
- „Schwache“ Staaten ohne Gewaltkonflikte, aber mit geringer Leistungsfähigkeit der Institutionen, etwa bei Basisdienstleistungen
- „Herausgeforderte“ Staaten, die relativ handlungsfähig und legitim sind, sich aber Bedrohungen (z. B. durch Folgen des Klimawandels) ausgesetzt sehen
- „Illegitime“ Staaten, deren politische Ordnung trotz oder gerade wegen massiver staatlicher Kontrolle von weiten Bevölkerungsteilen nicht als legitim akzeptiert wird und die daher nur scheinbar stabil sind
- „Mäßig funktionierende“ Staaten, wobei die Herausforderungen vor allem im Gewaltmonopol (Bedrohungen etwa durch organisierte Kriminalität) und in der Leistungsfähigkeit liegen
- „Fragile Situationen“ – nicht immer ist ein ganzer Staat fragil, sondern manchmal nur ein Teilgebiet aufgrund von besonderen Ereignissen